Das Lesen biblischer Texte

  1. Lesen im Altertum
  2. Lesen in der Synagoge
  3. Lesen in der Gemeinde
  4. Lesen, um zu verstehen
  5. Verständlich lesen

Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin, Kurfürstendamm 153. Sonntag 2. März 1997, 18.30 Uhr. Das Alte Testament ... von Anfang bis Ende in Fortsetzungen gelesen von Elisabeth Orth und Michael König. 8. Fortsetzung "Der Herr sprach zu Mose: Sage zu den Israeliten: Wenn einer ohne Vorsatz gegen eins der Gebote des Herrn sündigt und etwas Verbotenes tut ...".

Die Künstlerin begründete das staunenswerte Unterfangen: "Wir wollen das gesamte Alte Testament lesen. Weil der Text einfach eine Menge hergibt, weil es sich lohnt, darauf zu hören - und mehr an Begründung braucht es gar nicht."[1]

Bibel lesen - Bibel vorlesen. Zwei Unterfangen, die es in sich haben. Zunächst lesen, dann aber auch vorlesen. Lesen bedeutet, "geschriebene oder gedruckte Zeichen und Zeichengruppen einzeln und in ihrem Zusammenhang erfassen und in Sprache umsetzen".[2] Bibel vorlesen bedeutet, den Text der Bibel verstehen und in hörbare Sprache umsetzen. Beim Bibellesen geschieht aber noch viel mehr, denn wer Bibel liest, wird durch Gott selbst belehrt, denn er liest Gottes Wort und wer die Bibel vorliest, gibt diese göttliche Unterweisung an andere Menschen weiter. Josua 8,34f: "Dann las Josua das ganze Gesetz vor, auch die Segenszusagen und Fluchandrohungen, alles, was im Buch des Gesetzes geschrieben steht. Er ließ kein Wort von dem weg, was Mose gesagt hatte. Die ganze Gemeinde Israel hörte zu, auch die Frauen und Kinder und die Fremden, die bei ihnen lebten."

1. Lesen im Altertum

Wer im Altertum lesen konnte, tat dies grundsätzlich laut. Das hebräische Verb für lesen [ QaRa´ ] bedeutet nämlich "rufen", eigentlich "laut rufen". Selbst wenn man keine Zuhörer hatte, las man noch hörbar und bewegte die Lippen. Das hebräische Verb dafür bedeutet "murmelnd lesen" oder "halblaut lesen" [ HaGaH ]. Jos 1,8: "Dieses Buch des Gesetzes soll nicht von deinem Mund weichen, und du sollst Tag und Nacht darüber nachsinnen, damit du darauf achtest, nach alledem zu handeln, was darin geschrieben ist; denn dann wirst du auf deinen Wegen zum Ziel gelangen, und dann wirst du Erfolg haben."

Was die EÜ mit Nachsinnen wiedergibt, ist das Wort "HaGaH", murmelnd lesen. Wir können gut verstehen, dass Philippus damals den Äthiopier lesen hörte , wie es Apg 8,30 berichtet. "Philippus aber lief hinzu und hörte ihn den Propheten Jesaja lesen und sprach: Verstehst du auch, was du liest?"

Im Altertum verstand man das leise Lesen ohne Lippenbewegungen offenbar noch nicht. Augustin erzählt[3] dass Ambrosius[4] diese neue, merkwürdige Gewohnheit hatte. Er berichtet: "... wenn er las, liefen seine Augen über die Blätter und sein Herz durchsuchte die Bedeutung, aber seine Stimme und seine Zunge ruhten. Oft, wenn wir dabei waren - denn es war niemand verboten hineinzukommen, und es war auch nicht Gewohnheit, jemand dabei zu helfen - sahen wir ihn so schweigend lesen und niemals anders ..." Augustin vermutet, dass Ambrosius vielleicht so schneller lesen konnte, "... obschon auch die Absicht, seine Stimme zu schonen, die gern heiser wurde, vielleicht noch mehr die Ursache des stillen Lesens war. Aber mit welcher Absicht er dies auch tat, geschah es zweifellos in einer guten."[5]

2. Lesen in der Synagoge

2.1 Thoralesung

Ein wesentlicher Teil des jüdischen Gottesdienstes[6] bestand in der Vorlesung der Thora, des alttestamentlichen Gesetzes, das wir in den fünf Büchern Mose finden. Man hatte die Thora in Abschnitte eingeteilt, so dass man spätestens im Lauf von drei Jahren den ganzen Text gelesen hatte.[7]

Das Vorlesen der Thora im Gottesdienst stand prinzipiell jedermann zu. Meist lasen mehrere Männer den Abschnitt nacheinander. Es war die Sache des Synagogenvorstehers, diese Personen am Vortag zu bestimmen. Im Gottesdienst rief dann der Synagogendiener sie öffentlich auf. Der Aufgerufene trat nach vorn, öffnete die Thorarolle, blickte hinein und sprach zuerst einen Lobspruch darüber, worauf die Gemeinde mit Amen antwortete. Dann begann er mit dem Vorlesen seines Abschnitts, um nach einigen Versen dem nächsten Vorleser Platz zu machen. Das Vorlesen selbst musste ein wirkliches Lesen sein, d.h. die Stelle durfte nicht aus dem Gedächtnis gesagt werden. Außerdem musste der Leser dabei stehen und sich bemühen, seinen Abschnitt mit wohllautender Stimme vorzutragen.

Jakobus bestätigt, dass dieses Praxis überall gepflegt wurde. Apg 15,21: "Denn Mose hat von alten Zeiten her in jeder Stadt , die ihn predigen, da er an jedem Sabbat in den Synagogen gelesen wird."

Zur Zeit Jesu musste der in Hebräisch verlesene Text in die aramäische Landessprache übersetzt werden, weil nicht mehr alle Hebräisch konnten. Jeder Mann, der des Hebräischen mächtig war, durfte den verlesenen Text übersetzen. Die Übersetzung folgte frei nach jedem verlesenen Vers, d.h. der Übersetzer durfte nicht aus schriftlichen Aufzeichnungen vorlesen.

2.2 Prophetenlesung

Auf die Lesung der Thora folgte die Lesung eines Abschnitts aus den Propheten, der wahrscheinlich frei ausgesucht wurde und inhaltlich zu der Thorastelle passte. Das erfolgte nach der gleichen Prozedur: Nachdem der Leser die Rolle aus der Hand des Synagogendieners empfangen hatte, sprach er einen Lobspruch, las dann den Text und gab dem Diener die Rolle zurück.

2.3 Predigt

Nach der Textlesung wurden gewöhnlich einige Worte der Ermahnung an die Versammelten gerichtet. Das konnte der Vorleser tun oder auch ein anderer. Im Gegensatz zur Schriftlesung setzte er sich dabei vor die Versammlung. Ein schönes Beispiel dafür findet sich in Lukas 4,16ff:

In Apostelgeschichte 13,14ff berichtet Lukas noch ein anderes Beispiel aus Antiochia in Pisidien:

Dass Paulus hier zum Reden aufsteht hängt damit zusammen, dass er nicht lehrte, sondern ein Wort der Ermahnung an das Volk richtete. Nach rabbinischer Praxis erging die Lehre immer nur an eingeweihte Jünger im engen Kreis. Und nach den Regeln der großen Thora-Schulen geschah das Lehren immer im Sitzen. Gleichnisreden oder Schriftlesungen wurden stehend vorgetragen. Andere Anweisungen konnten im Gehen weitergegeben werden. Aber die offizielle Unterweisung geschah im Sitzen. Wir sprechen selbst heute noch vom Lehrstuhl eines Professors.

3. Lesen in der Gemeinde

Auch im christlichen Gottesdienst nahm das Vorlesen der alttestamentlichen Schriften einen großen Raum ein, denn Paulus konnte in den zum großen Teil heidenchristlichen Gemeinden eine Kenntnis der Schrift voraussetzen, die nur durch häufig wiederholtes Vorlesen erreichbar war. (Nur wenige Christen konnten sich eine Abschrift des Alten Testaments leisten und persönlich lesen. Eine von Hand auf Pergament geschriebene Thorarolle kostet heute noch je nach Ausführung zwischen 40.000 und 140.000 DM.) Deshalb ermahnte Paulus den Timotheus (1Tim 4,13):

"Bis ich komme, achte auf das Vorlesen, auf das Ermahnen, auf das Lehren!"

Timotheus sollte das Alte Testament vorlesen. Dazu gebrauchte er die griechische Übersetzung, die sogenannte Septuaginta, denn Griechisch verstand man fast überall im Römischen Reich. Das Neue Testament existierte zu dieser Zeit erst in wenigen Teilen, die außerdem nur einzelnen Gemeinden bekannt waren. Allerdings wurden diese Schriften sofort regelmäßig im Gottesdienst vorgelesen. Der Theologe Schlatter sagt:

Allerdings las man in den Gemeinden auch andere Schriften, die man für sehr wichtig hielt, die aber dann nicht in die Sammlung des Neuen Testaments aufgenommen wurden. So berichtet zum Beispiel Dionysius, der Bischof von Korinth in einem Brief an Klemens, den Bischof der Gemeinde von Rom (diesen Klemens bezeichnete Paulus übrigens als seinen Mitkämpfer - Phil 4,3): "Wir feiern heute den heiligen Tag des Herrn und haben an demselben euren Brief verlesen, welchen wir gleich dem früheren durch Klemens uns zugesandten Schreiben stets zur Belehrung verlesen werden." Der Klemensbrief wurde auch in einigen anderen Gemeinden öffentlich vorgelesen, wie Eusebius von Cäsarea in seiner Kirchengeschichte erwähnt.

Den Christen in Kolossä schrieb der Apostel Paulus (Kol 4,16): Wenn dieser Brief (damit meinte er den Kolosserbrief) bei euch vorgelesen worden ist, dann schickt ihn nach Laodizea, damit er auch dort verlesen wird. Und lest auch den Brief, den ich nach Laodizea geschrieben habe. - Das meinte natürlich vorlesen. Das Vorlesen biblischer Texte hat nun mal eine besondere Verheißung.

Um 150 n.Chr. beschrieb Justin der Märtyrer in einer Bittschrift an den Kaiser den Ablauf eines sonntäglichen Gottesdienstes:

Offenbarung 1,3: "Wie glücklich ist der, der die Worte der Weissagung liest und die, die sie hören und bewahren, was darin geschrieben steht!"

Hier ist nicht gemeint, dass da einer für sich allein liest, sondern dass der Text anderen laut vorgelesen wurde. Aber natürlich gilt die Seligpreisung auch dem, der den Text für sich liest.

4. Lesen um zu verstehen

Der HERR JESUS fragte seine pharisäischen Gegner und die Schriftgelehrten oft, ob sie eine bestimmte Stelle denn nicht gelesen hätten. Er hatte es offenbar getan und wusste genau Bescheid. Beispiele:

[Mt 12,3] Er aber sprach zu ihnen: Habt ihr nicht gelesen, was David tat, als ihn und die bei ihm waren hungerte?
[Mt 12,5] Oder habt ihr nicht in dem Gesetz gelesen, dass am Sabbat die Priester in dem Tempel den Sabbat entheiligen und (doch) schuldlos sind?
[Mt 19,4] Er aber antwortete und sprach: Habt ihr nicht gelesen, dass der, welcher sie schuf, sie von Anfang an (als) Mann und Frau schuf?
[Mt 21,16] Ja, habt ihr nie gelesen: "Aus dem Mund der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet"?
[Mt 21,42] Jesus spricht zu ihnen: Habt ihr nie in den Schriften gelesen: "Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein geworden; von dem Herrn her ist er dies geworden, und er ist wunderbar in unseren Augen"?
[Mk 12,26] Was aber die Toten betrifft, dass sie auferweckt werden: Habt ihr nicht im Buch Moses gelesen, wie Gott beim Dornbusch zu ihm redete und sprach: "Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs"?

Lesen bedeutet also auch verstehen. Werner de Boor schreibt in seinem Vorwort zur Erklärung der Briefe des Paulus an die Philipper und an die Kolosser:

5. Verständlich Lesen

Verständlich lesen kann nur der, der den Text verstanden hat. Wer den Sinn eines Satzes nicht vorher erfasst, kann ihn nicht richtig vorlesen. Er wird den Text entstellen, wird Pausen an den unmöglichsten Stellen machen, er wird die Wörter falsch betonen und unter Umständen sogar bei einzelnen Begriffen stolpern. Darum: Man versetzte sich in den Text hinein als ob man ihn selbst erleben würde, man fühle mit den handelnden Personen, man ahne die Absicht des Verfassers. Verständlich lesen heißt also nicht nur deutlich lesen, aber es heißt es auch, wie Spurgeon bemerkt:

Also: Mut zum lauten Bibellesen. Manche Bibeltexte habe ich das erste Mal halbwegs verstanden, nachdem ich sie laut gelesen hatte.


Fußnoten

[1] Idea Spektrum 1997/4
[2] Berthelsmann Discovery 2000
[3] Kirchenvater Augustinus 354-430 n.Chr. in seinen "Bekenntnissen".
[4] 340-397 n.Chr.
[5] Zitiert bei Külling in "Bibel und Gemeinde" 1963/4 S. 261
[6] Strack-Billerbeck IV.1 S. 153ff
[7] Die babylonischen Juden lasen den Text in einem Jahr durch. Diese Einteilung des Pentateuch in 54 Paraschen findet sich heute noch in den hebräischen Bibeln.
[8] Schlatter S.80
[9] Spurgeon S. 49ff
[10] Zitiert bei Zahn, Skizzen S. 215